Aufmerksamkeit schenken – Ehrenamtliche begleiten Menschen mit Demenz
„Menschen mit Demenz sind so kostbar, man muss sie einfach gern haben.“
Interview mit Marie-Josée Schmit, die seit über 22 Jahren als Ehrenamtliche in der Krankenpastoral des Erzbistums u.a. Menschen mit Demenz besucht.
Von Christine Dahm-Mathonet, Direktionsbeauftragte des IZD
Frau Schmit, Sie besuchen als Ehrenamtliche der Krankenpastoral Menschen mit Demenz. Was fällt Ihnen auf?
Ich versuche so gut wie möglich mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, umzugehen. Es ist oft erstaunlich, was sie ihren Familien noch zeigen können und wie sie reagieren. Es gibt Tage, an denen sie innerlich aufgebracht sind, vor allem wenn man ihnen zu oft antwortet „Das hast du mir schon mal gesagt“, oder „Muss das jetzt wirklich sein?“. Denn wenn Menschen mit Demenz verärgert sind, drücken sie das aus. Wenn sie jedoch einen schönen Tag hatten, dann lachen sie und freuen sich wie ein Kind. Manchmal braucht es nur eine Kleinigkeit, ein Wort, das sie erreicht, ein Foto, das sie erkennen, und sie tauen auf und ihre Erinnerungen sprudeln nur so aus ihnen heraus. Welch ein Reichtum!
Wie haben Sie das konkret erlebt?
Wenn wir in einer Gesprächsgruppe mit Demenzkranken z.B. das Thema Allerheiligenprozession ansprechen, dann brauchen wir oft nicht viel dazu zu sagen. Die Menschen blühen auf und erzählen, was sie in ihren Dörfern erlebt haben. Beim Thema Fastenzeit erzählen sie, dass früher während dieser Zeit sogar die Pfannen ausgebrannt wurden, damit kein Fett mehr darin übrigblieb. Ihr Langzeitgedächtnis wird dann wieder aktiviert. Oft brauche ich kein Programm vorzubereiten: Wenn der Rahmen stimmt, gestalten die Teilnehmer ihr Programm selbst. (lacht)
Wenn wir einen Wortgottesdienst halten, dann sind da auch oft Menschen mit Demenz, die nicht mehr sprechen können. Wenn aber Lieder von früher gesungen werden, singen sie mit und keiner kann sie aufhalten. Oft ist das selbst für das Personal ergreifend und überraschend und ich sage mir, dass es wertvoll ist, ihnen Zeit zu schenken.
Sie organisieren also Gottesdienste speziell für Menschen mit Demenz?
Jede Woche findet im CIPA Howald ein kurzer Gottesdienst in der Wohneinheit für Demenzerkrankte statt. Es ist wichtig, dass diesen Menschen, für die ein „normaler“ Gottesdienst zu anstrengend wäre oder die nicht hingehen können, auch etwas geboten wird.
Ich helfe auch in der Vorbereitung von Aktivitäten, z.B. in der Fastenzeit oder Ostern. Selbst Bewohner, die sonst nicht in die Gottesdienste gehen, kommen mit, wenn auf Aschermittwoch das Aschenkreuz verteilt wird oder wir kurz vor Ostern den Kreuzweg gehen. Sie spüren, dass es etwas Besonderes ist und oft kennen sie es von früher. Wenn wir uns als Ehrenamtliche der Krankenpastorale vorstellen, dann wissen manche nichts damit anzufangen und fragen nach: „Kommen Sie von der Krankenkasse?“ Und wenn wir dann gehen, erkundigen sich einige: „Was kostet das?“ (lacht) Wenn ich manche frage, ob sie möchten, dass ich wiederkomme, sagen sie: „Ja, bitte. Wenn ich auch mit der Kirche nichts am Hut habe, wäre ich aber froh, wenn Sie nochmal zu mir kommen, um mit mir zu plaudern.“
Welche Erfahrungen haben Sie mit Angehörigen gemacht?
Ich habe erlebt, dass ein Bewohner niemanden mehr erkannt hat und immer wieder von seiner Mutter gesprochen und manchmal eine Unbekannte als seine Mutter angesprochen hat. Das war anfangs schwer für seine Familienangehörigen, bis sie gemerkt haben, dass auch sie selber manchmal für seine Mutter gehalten wurden. Dann fragt man sich, was in den Menschen vorgeht.
Manchmal meinen Angehörige: „Sie erkennt mich nicht mehr, sie weiß nicht mehr wer ich bin.“ Dann sind sie oft glücklich, wenn ihre Mutter plötzlich sagt: „Ich bin froh, dass du da bist, dass du dich so gut um mich kümmerst.“ Das sind Dinge, die mich berühren.
Und oft braucht es viel Kreativität und Einfühlungsvermögen.
Ja, es gibt manchmal unerwartete Reaktionen von Menschen mit Demenz, z.B. wenn sie rufen – besonders nachts – oder mit Gegenständen um sich werfen, wenn etwas sie stört. Wir hatten im Pflegeheim eine Frau, die abends, wenn es dunkel wurde, unruhig wurde. Wenn jemand nach ihr schauen kam, wurde er/sie mit irgendeinem Gegenstand beworfen. Die Frau wollte aber eigentlich damit ausdrücken, dass sie gerne das Licht eingeschaltet hätte. Dabei hatte jeder ganz vorsichtig, ohne das Licht anzuschalten, in ihr Zimmer geschaut. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir gemerkt haben, dass sie sich auf diese Weise manifestieren wollte. Wenn wir dann das Licht angemacht haben, hat sie sich beruhigt.
Es gibt viele solcher Beispiele. Eine 60-jährige Frau hatte eine vaskuläre Demenz. Sie stellte sich im Aufzug vor den Spiegel − nicht um sich selber darin zu sehen, sondern um mit der Person zu sprechen, die sie im Spiegel sah. Sie lebte in ihrer eigenen Realität und daher war es wichtig, ihr dort zu begegnen und sie nicht zu korrigieren oder ihr zu widersprechen.
Es ist wichtig, sich auf Menschen mit Demenz einzulassen und zu beobachten, was sie brauchen und sich wünschen. Möchten sie z.B. gerne in den Arm genommen werden, wenn sie traurig sind oder nicht? Ein Mensch mit Demenz ist für mich genauso kostbar wie ein anderer Mensch. Er funktioniert lediglich nicht mehr so wie andere. Als Mensch aber bleibt er weiterhin wertvoll.
Sie als Außenstehende haben oft einen anderen Zugang zu den Betroffenen.
Ehrenamtliche Begleitung ist mit Geld nicht zu bezahlen. Wenn Sie einer Person mit Demenz sagen: „Da haben Sie aber ein schönes Foto“, kann es sein, dass sie Ihnen ein ganzes Buch darüber erzählt: mit den Lebensläufen aller Personen, die auf dem Foto zu sehen sind, und vielen Anekdoten. Diese Geschichten haben sie verinnerlicht. Aber oft ist es so, dass ihre Kinder oder Enkelkinder es nicht mehr ertragen, die gleichen Geschichten immer wieder zu hören. Menschen mit Demenz – und ältere Menschen im Allgemeinen – muss man einfach gern haben. (lacht)
Wie hat sich Ihr Blick auf Menschen mit Demenz verändert?
Als ich vor 22 Jahren in der Krankenpastoral angefangen habe, wusste man noch nicht so viel über die Erkrankung wie heute. Betroffene waren oft verloren, bekamen abwertende Bemerkungen oder wurden abgelehnt. Wenn ich gesehen habe, dass solches Verhalten Wut bei den Betroffenen auslöste, hat mich das sehr berührt. Für mich ist der ältere Mensch noch immer als Mensch zu respektieren. So sollte es auch in der Gesellschaft sein. Oft meinen Angehörige es nicht böse, wenn sie sagen: „Oh, unsere Oma ist jetzt aber durcheinander. Sie weiß ja gar nicht mehr, was sie sagt.“ Die Betroffenen bekommen das oft sehr wohl mit. Ich versuche immer aufmerksam zu sein, wie ich über einen Menschen mit Demenz spreche und wie er reagiert.
Wer ist Marie-Josée Schmit?
Marie-Josée Schmit (84) war 35 Jahre als Krankenpflegerin in der Geburtshilfe der Klinik Bohler tätig. Nachdem sie pensioniert wurde, wollte sie zuerst junge Mütter nach einer Fehlgeburt begleiten und hat sich dafür bei der Krankenpastoral ausbilden lassen. Sie ist jedoch im Jahr 2002 gebeten worden, in den Pflegeheimen in Howald und Mamer auszuhelfen. Dort ist sie geblieben und somit seit 22 Jahren ehrenamtlich in der Begleitung von älteren Menschen engagiert. „Ich hätte nie gedacht, dass mein Ehrenamt mir so viel geben würde.“
Was ist die Alten- und Krankenpastoral?
Ähnlich wie in Krankenhäusern begleiten Altenheimseelsorger der Krankenpastoral (ein Dienst des Erzbistums) Bewohner von Altenheimen in prekären Lebenssituationen (Gebrechlichkeit, Krankheit, Sterben …). Dies geschieht vor allem in Gesprächen aber auch in der Feier von Ritualen und Gottesdiensten. Altenseelsorger stehen auch den Angehörigen und Heimmitarbeiter in krisenhaften Situationen (Übergang vom Zuhause ins Heim, Tod …) bei. Die Seelsorgenden absolvieren für ihre Tätigkeit eine fast 100-stündige Ausbildung. www.cathol.lu