Aufmerksamkeit schenken – Ehrenamtliche begleiten Menschen mit Demenz
„Nach und nach habe ich meine Berührungsängste verloren. Ich sehe, dass noch so viel Schönes da ist.“
Ein Interview mit Simone Molitor und Nathalie Mella, die sich ehrenamtlich in der Vereinigung „Momenter intensiv liewen“ (MIL asbl) engagieren.
Von Christine Dahm-Mathonet, Direktionsbeauftragte des IZD
Welche Veranstaltungen organisiert die MIL asbl für Menschen mit Demenz?
Unsere Grundidee ist, Menschen mit Demenz aus ihrem Pflegealltag herauszunehmen und ihnen kulturelle Veranstaltungen anzubieten, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Angefangen haben wir mit einem Konzert mit bekannten traditionellen luxemburgischen Liedern („Kanner O Kanner O quel bonheur“). Dabei ging es auch darum, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen und die Anwesenden zum Mitmachen zu animieren, ohne dabei aufdringlich zu sein. Wir wollen, dass unser Publikum in eine andere Welt eintauchen und einen schönen Nachmittag verbringen kann.
Worum geht es Ihnen bei solchen demenzfreundlichen Konzerten?
Wir möchten Menschen mit Demenz animieren und am kulturellen Leben teilhaben lassen. Während dieser Veranstaltungen dürfen sie so sein, wie sie sind: sich bewegen, mitsingen, ihren Gefühlen nachgeben, ohne dass sich andere Zuhörer dabei gestört fühlen. Oft sind wir erstaunt, wie schnell sich die Stimmung nach einer anfänglichen Zurückhaltung entwickelt, wie das Publikum klatscht, mitsingt und strahlt. Manche Zuschauer tanzen dann sogar mit. Oft beginnt die Vorfreude schon auf dem Weg zum Konzert und spätestens, wenn wir sie am Eingang herzlich empfangen.
Die MIL asbl bietet ja nicht nur Musik FÜR, sondern auch MIT Menschen mit Demenz.
Ja, das ist unser neuer „MIL-Chouer“, wo wir sie noch mehr einbinden möchten. Der MIL-Chouer ist ein gemischter Chor, von 30 bis 40 Menschen mit und ohne Demenz, die seit Ende 2023 gemeinsam jeden zweiten Samstag im Pflegeheim „Beim Goldknapp“ unter der Leitung von Jenny Spielmann (INECC) proben. Bei diesen Proben sorgen wir dafür, dass immer genügend Begleiter dabei sind, um sich neben die Betroffenen zu setzen und ihnen zu helfen, sich mit den Liedtexten zurechtzufinden. Viele kennen die traditionellen Lieder auswendig. Wenn jedoch jemand sich im Text verliert, brauchen wir oft nur kurz zu zeigen, wo wir dran sind. Wir machen das mit Liebe, Geduld und Verständnis, es herrscht eine familiäre Stimmung. Oft merken wir, dass Personen, die anfangs ziemlich teilnahmslos dabeisitzen, mit der Zeit aufblühen, lachen und mitsingen und wiederum andere animieren. Es überrascht uns immer wieder, wie gut der Chor funktioniert. Bei den Proben sind die Betroffenen oft so begeistert, dass sie beginnen zu erzählen: woher sie die Lieder kennen, von ihrer Kindheit oder anderen Erinnerungen. Das ist sehr beeindruckend; wir würden es fast nicht glauben, hätten wir es nicht selbst gesehen. (lacht)
Würden Sie sagen, dass Menschen mit Demenz ein dankbares Publikum sind, auch wenn die bewussten Momente manchmal nur kurz sind?
Das ist ja gerade unser Bestreben und drückt sich im Namen unserer Vereinigung aus: „Momente intensiv leben“ (MIL). Oft sind die Momente, die wir erleben, so überwältigend, dass wir mit den Tränen kämpfen müssen. Es ist immer der Augenblick, der zählt. Manchmal sind Bewohner noch Tage danach lebhafter und redseliger. Aber das Wichtigste ist, dass in dem bestimmten Moment eine große Freude da ist. Es geht uns nicht darum, einen perfekten Chor auf die Beine zu stellen oder unbedingt ein neues Lied einzustudieren. Wir haben keine bestimmten Erwartungen, merken aber schnell, welche Lieder gut ankommen und welche weniger. Selbst Bewohner, die „nur“ zuhören und nicht mitsingen möchten, bekommen etwas von der Stimmung mit.
Simone, wie hat sich Ihr Blick auf Menschen mit Demenz verändert?
Als meine Großmutter vor 25 Jahren an Demenz erkrankte, habe ich diese Zeit als sehr schwierig empfunden, weil es damals nicht viele Informationen über die Erkrankung gab. Ich wusste nicht, wie ich mit meiner Oma umgehen sollte und hatte Berührungsängste. Daher war es mir wichtig, mich mit dem Thema Demenz auseinanderzusetzen. Ich habe gesehen, dass man trotz der Erkrankung noch viel machen und weiter am öffentlichen Leben teilnehmen kann. Wenn ich damals mehr über den Umgang mit einer betroffenen Person gewusst hätte, hätte ich die letzte Zeit mit meiner Oma sicher anders erlebt.
Ich nehme Menschen mit Demenz jetzt eigentlich erst richtig wahr. Im Allgemeinen wird ja nicht viel oder gerne über das Thema gesprochen, und dann weiß man oft nicht, wie ein Mensch mit Demenz funktioniert. Am Anfang habe ich mit ihnen gesprochen wie mit einem Kind. Ich habe aber dann gemerkt, dass das nicht nötig oder angebracht ist, sondern dass man ganz normal sein kann. Ich sehe, dass in vielen Menschen noch viel mehr steckt, als ich bis dahin geglaubt hatte.
Und wie war das bei Ihnen, Nathalie?
Zu Menschen mit Demenz hatte ich vor meinem Ehrenamt bei der MIL asbl keinen Kontakt. Es hatte sich ganz einfach nie ergeben. Während eines Konzertes der MIL asbl im Conservatoire war ich beeindruckt von der Organisation und der musikalischen Qualität der Veranstaltung. Zudem war ich ergriffen angesichts der Freude, die das Konzert offensichtlich den demenzkranken Besuchern sowie ihren Familien beschert hat. Anfangs habe ich eher am Rande geholfen. Nach und nach wurde ich dann im direkten Umgang mit den demenzkranken Menschen aktiver; die Angst etwas Falsches zu tun oder zu sagen verschwand.
Bei der MIL asbl erleben wir positive und schöne Momente. Es nimmt den Schrecken vor der Krankheit.
Wer sind Simone und Nathalie?
Simone Molitor, 46, ist Journalistin. Sie unterstützte von Anfang an die Initiative ihrer Bekannten Dani Jung, eine Vereinigung zu gründen, um Kulturprojekte für Menschen mit Demenz zu initiieren. Simone ist seit 2019 Sekretärin der MIL asbl und Mitglied im MIL-Chouer.
Nathalie Mella, 51, Angestellte bei einer Steuerberatungsgesellschaft, lernte Dani Jung vor rund drei Jahren kennen und besuchte mit ihr ein Konzert der MIL asbl im Conservatoire. Daraufhin hat sie sich nach und nach mehr in der MIL asbl engagiert, ist aktuell Kassenwartin sowie Mitglied im MIL-Chouer.
Was ist die MIL asbl ?
Seit 2019 setzt sich die MIL asbl als Ziel, Kulturprojekte für Menschen mit Demenz zu initiieren und zu betreuen, damit diese weiterhin Zugang zur Kultur haben und Teil unserer Gesellschaft bleiben. Dabei steht die Abkürzung MIL für das Motto der Vereinigung: „Momente intensiv leben“. Bei sogenannten „relaxed performances“ − Aufführungen, die an die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz angepasst sind (z.B. Uhrzeit, Dauer, Beleuchtung, Lautstärke usw.) − dürfen Menschen mit Demenz so sein, wie sie sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.milasbl.lu.