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15 septembre 2023

„Wenn meine Mutter sich wider Erwarten an etwas erinnert, ist es, als würde die Sonne scheinen.“

Im Rahmen des Weltalzheimertages veröffentlicht das Info-Zenter Demenz im September 2023 eine Reihe von Interviews mit Angehörigen von Menschen mit Demenz zum Thema « Glücksmomente trotz Demenz ».

Interview mit Herrn Tino Spina über Glücksmomente mit seiner Mutter [1]

Herr Tino Spina (56) hat 2018 bei seiner Mutter (75) erste Anzeichen von Demenz wahrgenommen. 2020 kam dann die Diagnose „Demenz“. Im Verlauf der Erkrankung hat sich Herr Spina vom Info-Zenter Demenz beraten lassen, u.a. um den Umgang mit seiner Mutter zu erleichtern. Zurzeit lebt seine Mutter mit Ihrem Ehemann, der sie (momentan noch) ganz ohne die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes betreut, zu Hause.

Herr Spina, erzählen Sie uns doch bitte etwas über Ihre Mutter.

Meine Mutter ist für mich eine enorm wichtige Person, zu der ich schon immer ein sehr enges Verhältnis hatte. Sie war immer für mich und meinen jüngeren Bruder da, hat uns hin und her gefahren, für uns gekocht, gewaschen, geputzt, uns großgezogen. Weil mein Vater vier Schichten bei der ARBED gearbeitet hat, war meine Mutter zu Hause für alles zuständig. Sie war eine wunderbare Mutter. Seitdem sie 2020 die Diagnose „Demenz“ erhalten hat, übernimmt mein Vater immer mehr ihre Rolle. Das ist natürlich nicht einfach für ihn, aber ich muss schon sagen: alle Achtung für alles, was er bisher in der Betreuung meiner Mutter geleistet hat.

Welche Glücksmomente erleben Sie mit Ihrer Mutter?

Wenn ich mit meiner Mutter über frühere Zeiten rede, dann sehe ich, dass sie in ihrem Element ist. Sie kann mitreden, ohne überlegen zu müssen. Reden wir im Gegenteil von rezenten Ereignissen spüre ich bei ihr eine starke Blockade – sie muss überlegen, was sie eben gemacht, gekocht oder gegessen hat – und oft weiß sie es nicht mehr. Das führt bei ihr dann zu negativen Gefühlen. Beim Erzählen von weit zurückliegenden Ereignissen sehe ich wie sie strahlt und unbeschwert ist. Sie erinnert sich an vieles – an weit mehr als ich – und schildert ihre Erinnerungen mit viel Energie und Freude.

Haben die guten Momente mit Ihrer Mutter sich durch die Krankheit verändert?

Ich hatte schon immer eine sehr enge und starke Bindung mit meiner Mutter – mit und ohne Demenz – da hat sich nichts geändert. Die Liebe zu ihr ist geblieben, ich nehme sie noch öfter in den Arm und unterstütze sie noch stärker. Ein einfaches Beispiel: sie weiß, dass ich Wiener Schnitzel liebe und deshalb bereitet sie mir regelmäßig welche zu. Einmal hatte sie die Pfanne auf der falschen Seite stehen, hatte beide Arme überkreuzt und fast einen Knoten in den Armen und bekam das Fleisch nicht gedreht. Ich habe mich hinter sie gestellt, habe ihre Hände genommen, ihre Arme gelöst, die Pfanne wieder hingestellt und das Fleisch gedreht. Dann habe ich sie in den Arm genommen. Irgendwie hat ihr das gut getan – und mir auch. Auch wenn man etwas nicht mit Wörtern ausdrücken kann, kann man dies mit Liebe, mit Zeichen, mit Körperkontakt, mit einem Kuss oder mit einer Geste.

Wäre das ganz am Anfang ihrer Erkrankung passiert, als wir die Krankheit noch nicht so gut kannten, dann hätte ich wahrscheinlich anders reagiert und gesagt „Mama, was machst du da? Das geht doch so nicht! Kannst du nicht mehr kochen?“ und die Situation hätte ein anderes Ende genommen. Aber mit der Zeit lernt man, dass man es der Person nicht übelnehmen und sie nicht beschimpfen soll. Man lernt, wie man reagieren soll, um die Person nicht zu verletzen.

Mit einer kleinen Geste konnten wir die Situation also zurück in die Normalität bringen. Und dies auch noch mit einem positiven Schmunzeln auf Mutters Gesicht. War es ein Schmunzeln über ihre eigene Tollpatschigkeit? Über mich? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war das eine schöne Situation, die ich zu Hause sofort meiner Frau erzählen musste. Je kleiner, sinnloser oder lachhafter eine Aktion ist, umso größer ist der Glücksmoment.

© Info-Zenter Demenz

Was hilft Ihnen solche Momente zu ermöglichen?

Für mich ist es wichtig, meine Mutter regelmäßig zu besuchen, für sie da zu sein und ihr zu zeigen, dass ich sie so akzeptiere wie sie ist. Auch wenn meine Mutter immer wieder sagt „Du warst schon lange nicht mehr hier“ oder „Du hast dich schon lange nicht mehr gemeldet“ – und dabei rufe ich sie jeden Morgen an – ist es für mich schön zu sehen, dass es ihr in dem Moment, in dem ich bei ihr bin, gut geht. Danach kann ich dann beruhigt zur Arbeit oder nach Hause fahren.

Besonders am Anfang ihrer Erkrankung war die Situation allerdings sehr schwer für uns und wir haben vieles falsch gemacht. Wir konnten nicht verstehen, dass sie etwas, das sie erst ein paar Sekunden zuvor gemacht oder gesagt hatte, gleich wieder vergessen hatte. Nachdem wir uns dann – unter anderem beim Info-Zenter Demenz – informiert hatten, bekamen wir nach und nach einen Einblick in ihre Welt und lernten sie besser zu verstehen und angepasster zu reagieren. Diese Beratungen haben uns viel geholfen.

Anstatt meine Mutter z. B. darauf hinzuweisen, dass sie dies oder das doch eben schon gemacht oder gefragt hat, ist es hilfreicher, ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht schon drei Mal nachgefragt hat. Es bringt nichts, sie unnötig zu stressen und aufzuregen, und der Austausch gelingt besser, wenn man selbst Ruhe und Geduld bewahrt. Seitdem ich das verstanden habe, ist der Umgang mit ihr ein purer Genuss.

An welche weiteren Glücksmomente können Sie zurückdenken?

Vor kurzem habe ich ihr einen Blumenstrauß mitgebracht. „Die sind wirklich großartig“ hat sie auf einmal gemeint. Man erwartet sich kein großes Dankeschön und kein großes Wunder, aber alles, was uns ein Stück weg von der Krankheit bringt, ist für mich etwas Besonderes.

Ich war auch erstaunt, dass sie wusste, wann die Osterzeit beginnen würde. Weil sie normalerweise jegliche zeitliche Orientierung verloren hat, hat dieser Moment mich glücklich gemacht. Es sind diese kleinen Sachen, die mich glücklich machen. Weil meine Erwartungen quasi null sind, führt alles, was diese Erwartungen übertrifft, bei mir zu einem Glücksgefühl. Es sind solche Kleinigkeiten, die mir zu verstehen geben, dass dieser Mensch noch viele Emotionen hat und, dass er noch „lebt“ – und das ist das Wichtigste.

Wenn meiner Mutter etwas gelingt, das sie eigentlich nicht mehr konnte, oder wenn sie etwas weiß, das ich nicht erwartet hätte, dann ist das für mich, als würde an dem Tag die Sonne scheinen.

Wo erleben Sie schöne Momente mit Ihrer Mutter?

Zu Hause. Sie ist am liebsten zu Hause, dort fühlt sie sich wohl und in Sicherheit.

Letzten Sommer hatten wir es gut gemeint und einen Familienurlaub organisiert: Die Familie meines Bruders, meine Familie und unsere Eltern sind zusammen in die Toskana – in ihr Herkunftsland – gereist. Wir hatten ein Haus gemietet und wollten eine schöne Zeit mit der ganzen Familie verbringen. Für meine Mutter war dieser Urlaub allerdings kontraproduktiv, sie war jeden Tag auf ein Neues verloren und stand permanent unter Stress. Sie hat zwar nichts gesagt, aber wir haben ihr angesehen, dass das Ganze Panik pur für sie war.

Kann man schöne Momente festhalten? Wie machen Sie das?

Ja, das kann man. Ich halte schöne Momente fest, indem ich sie weitererzähle. Meiner Frau oder meinen Kindern. Oder ich halte sie innerlich fest, ich denke dann ab und zu daran zurück und verankere sie in mir.

Vielen Dank, lieber Herr Spina, dass Sie Ihre Erfahrungen so offen mit uns geteilt haben.

Am 19. September organisiert das Info-Zenter Demenz eine Konferenz zum Thema Kostbare Augenblicke – Wie Glücksmomente in der Demenz gelingen, mit u. a. Poetry Slammerin Leah Weigand. Mehr Infos & Anmeldung hier.

[1] Das Interview wurde von Marie Tibesart im April 2023 geführt; der Artikel wurde von Maiti Lommel verfasst.

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