„Schritt für Schritt versuche ich, meiner Mutter näher zu kommen und sie merkt, dass ich es gut mit ihr meine.“
Interview mit Sylvie Fairon über die Bedeutung von Berührungen in der Begleitung ihrer an Demenz erkrankten Mutter
Von Maiti Lommel, Koordinatorin Info-Zenter Demenz
Wer ist Sylvie Fairon?
Sylvie Fairon ist 43 Jahre alt, kommt aus Echternach und arbeitet als Köchin. Gemeinsam mit ihrem Bruder betreut sie ihre Mutter, die an Alzheimer- und Frontotemporaler Demenz erkrankt ist. Als 2018 die Diagnose fiel, war ihre Mutter relativ selbstständig und konnte noch alleine wohnen. Einige Jahre später zog Frau Fairon zu ihrer Mutter, um sie besser begleiten zu können. Dank der Unterstützung eines Hilfs- und Pflegedienstes pflegte Frau Fairon ihre Mutter zu Hause bis sie 2022 ins Echternacher Spital umzog. Auch heute noch verbringt Frau Fairon jeden Tag nach ihrer Arbeit viele Stunden mit ihrer Mutter.
Frau Fairon, welche Rolle spielen Berührungen in der Begleitung Ihrer Mutter?
Es gibt kaum jemanden, der nicht gerne mal in den Arm genommen wird. Bei Menschen mit Demenz finde ich Berührungen umso wichtiger: Wörter kommen nicht immer an, Emotionen und Berührungen hingegen kommen sehr wohl an. Menschen mit Demenz „begreifen“ außerdem noch sehr gut, ob die Berührung liebevoll gemeint ist oder ob jemand sie nur am Handgelenk packt und in eine Richtung zieht. Das Gehirn wird dement, aber das Herz und die Emotionen bleiben bis zum Schluss lebendig.
Sie haben sich seit Anfang der Demenzerkrankung Ihrer Mutter viel über die Krankheit informiert.
Ich habe viel über die unterschiedlichen Demenzformen gelesen und an zahlreichen Online-Weiterbildungen teilgenommen. Das Wissen über die Demenzerkrankungen meiner Mutter, deren unterschiedliche Symptome und die Verläufe, haben mir dabei geholfen ihre Verhaltens- und Wesensveränderungen besser zu verstehen und damit umgehen zu können. Somit nehme ich diese nicht mehr als persönlichen Angriff auf mich wahr, sondern kann hier zwischen den Folgen der Demenzerkrankung und meiner Mutter unterscheiden. Ich habe mir zudem die Frage gestellt, ob und wie ich bis zum Schluss mit meiner Mutter kommunizieren könnte. Dabei bin ich auf verschiedene Pflegekonzepte und Kommunikationsmodelle gestoßen, wie z. B. die integrative Validation, Marte Meo oder basale Stimulation, welche mir in der Beziehung zu meiner Mutter viel geholfen haben. Ich versuche meine Mutter dort abzuholen, wo sie sich gerade befindet. Ich muss dafür sehr flexibel sein und mir viel Zeit nehmen. Weil etwas, das jetzt gut funktioniert, vielleicht später oder morgen nicht so gut ankommt. Da die verbale Kommunikation im Verlauf der Erkrankung schwieriger wurde, versuche ich mittlerweile immer, meine Mutter genau zu beobachten, um mir ein Gesamtbild ihrer Verfassung zu machen. Dabei achte ich auf ihre Körpersprache, ihren Blick, ihre Atmung, das Pulsieren der Hauptschlagader am Hals und auf andere Anzeichen wie z. B. kalten Schweiß im Gesicht oder das Tappen mit einem Fuß bei Unruhe. So kann ich gut reagieren
und besser mit ihr kommunizieren.
Wie helfen Ihnen Berührungen im Umgang?
Berührungen sind nicht nur wichtig, um in Kontakt zu bleiben, sondern auch um überhaupt Kontakt herzustellen. Wenn ich zum Beispiel ins Zimmer komme und meine Mutter schaut mich nicht an, dann berühre ich sie kurz am Arm oder nehme ihre Hand. Dann weiß sie, dass sie gemeint ist und richtet ihren Blick auf mich. Es gab Phasen, in denen meine Mutter „nach Hause“ gehen wollte. Meiner Meinung nach war das auch eine Suche nach bestimmten Emotionen, nach etwas Bekanntem, nach Geborgenheit. In solchen schwierigeren Situationen habe ich meine Mutter an der Hand genommen, ihr meine Hand auf die Schulter gelegt, ihr über den Rücken gestrichen, sie leicht gedrückt oder in den Arm genommen, sie geküsst. Menschen mit Demenz erkennen Berührungen und wissen welche Bedeutung sie haben, wohingegen Wörter nicht immer verstanden werden. Berührungen hingegen kommen sofort an und wirken direkt.
Welche Auswirkungen haben Berührungen auf Ihre Mutter?
Wenn meine Mutter unruhig ist, wirkt eine Massage beruhigend auf sie. Bei einer Kopfmassage kann sie sehr gut entspannen und wirkt ausgeglichener. Sie schließt die Augen und genießt den Moment. Nach einer Massage ist sie aufnahmefähiger und auch eher bereit, von sich aus zu reden, nimmt meine Hand oder gibt mir einen Kuss.
Damit das gut funktioniert muss wahrscheinlich die Chemie zwischen Ihnen harmonieren?
Genau. Wenn ich ankomme, muss ich meiner Mutter erst mal in die Augen schauen, um zu verstehen, ob sie einen wachen Blick hat oder mit ihren Gedanken weit weg ist. Wenn letzteres der Fall ist oder sie mich nicht erkennt, dann bleibe ich erst einmal auf Distanz. Würde ich ihr dann z. B. mit Berührungen zu nahe kommen, dann könnte sie das eventuell als Angriff empfinden. Also versuche ich dann langsam, Schritt für Schritt, ihr näher zu kommen. Und nach einiger Zeit merkt sie, dass ich es gut mit ihr meine. Es kam auch schon vor, dass die anfängliche Distanz bestehen blieb und es für mich schwierig war, mit ihr in Kontakt zu treten. An solchen Tagen gehe ich dann früher nach Hause, weil ich nichts erzwingen und ihr Bedürfnis nach Distanz respektieren möchte.
Wie gehen Sie mit solchen schwierigeren Situationen um?
Ich sage mir dann, dass das nicht meine Mutter ist, wie ich sie kenne, sondern die Symptome ihrer Demenzerkrankung. Wenn sie distanziert ist oder mich auch schon mal aggressiv behandelt hat, dann nehme ich das nicht persönlich. Ich würde mir damit selbst keinen Gefallen machen und ihr Unrecht tun.
Berührungen betreffen nicht nur den Körperkontakt. Kann Ihre Mutter im übertragenen Sinn auch durch andere Sinne berührt werden?
Meine Mutter genießt den Geruch einer Tasse Kaffee und mag frisches Gebäck oder gut riechende Blumen und Parfüm. Und sie liebt ihre belgische Reistorte. Wenn sie mal nicht essen will, schafft man es meist doch sie mit ihrer geliebten Reistorte zu verführen. Lange Zeit liebte sie es, alte luxemburgische Lieder zu hören.
Wie merken Sie, dass es Ihrer Mutter gut geht?
Ihre Augen verraten mir viel: manchmal hat sie ein Leuchten in den Augen; manchmal eher einen müden, abwesenden Blick. Ich versuche dann das Leuchten in ihren Augen zurückzubringen. Ich merke auch, dass es ihr gut geht, wenn sie Blickkontakt sucht und mich anlächelt oder gesprächig ist. Dann sagt sie z. B. „Komm trink ein bisschen Wasser mein Kind, du hast noch nicht viel getrunken.“ Oder wenn sie interessiert nachfragt „Wer ist das auf dem Foto?“ oder sich eigenständig an etwas erinnert. Und wenn sie Musik hört und sich dazu bewegt, dann sehe ich, dass es ihr gut geht. Manchmal schaut sie mich auch ganz genau an oder sagt „Du bist ein gutes Kind“. Das ist für mich einer dieser Glücksmomente, die uns beiden guttun und weiterhin Kraft geben.
Vielen Dank liebe Frau Fairon, dass Sie Ihre Erfahrungen so offen mit uns geteilt haben.